Samstag, 15. August 2009

Die Ungeheuer der Vernunft


Essay über Gedankenexperimente als Ausdruck neuzeitlicher Vernunft
von Christian Höner

Es gibt eine berühmte Radierung des spanischen Künstlers Francisco de Goya, auf der ein schlafen­der Mann zu sehen ist. Er sitzt auf einem Stuhl, den Oberkörper in einer unbequemen Verrenkung auf einen seitlich stehenden Schreibtisch gelehnt, den Kopf auf die Arme gebettet. Doch hinter ihm erheben sich die Gestalten der Nacht, Monstrositäten und Schatten zu einer bedrohlichen Kulisse. Auf der dem Betrachter zugewandten Rückseite des Schreibtisches prangt in großen Lettern der Satz: „El sueño de la razón produce monstruos“ - „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Gemeinhin wird das Bild als Mahnung gelesen, die Vernunft dürfe nie ruhen, andernfalls würden die Geister des Irrationalismus geweckt. Es handelt sich hierbei um einen zentralen aufklärerischen Topos, der auch heute angesichts globaler Krisenphänomene und ihrer ideologischen Verarbeitungsmuster immer wieder bemüht wird. Trotz großer Fortschritte in Richtung Vernunft kranke die Welt an ihrer unzu­reichenden Durchsetzung. Immer wieder bedrohen Atavismen und Irrationalität eine mögliche vernünftige Welt. Inwieweit dieser Zustand jemals erreicht werden könne, darüber mag nach Jahr­hunderten der Aufstiegs- und Durchsetzungsgeschichte der Vernunft hier und da Ernüchterung eingekehrt sein; sie selber scheint davon ungetrübt im alten Glanze zu erstrahlen.
Doch ist die Vernunft tatsächlich so makellos? Immerhin bietet Goyas Bild auch eine andere Deu­tungsmöglichkeit: Vielleicht ist es gar nicht die Vernunft, die schläft? Vielleicht ist sie hellwach und es ist vielmehr der Mensch, der von ihr in den Schlaf gewogen wird. Demnach wäre es nicht die Abwe­senheit, nicht der Mangel an Vernunft, sondern ihre Omnipräsenz, der die angsteinflößenden Dämo­nen entsteigen.1
Wenn im Folgenden über Gedankenexperimente reflektiert werden soll, dann geschieht dies vor dem Hintergrund einer vernunftkritischen Perspektive. Wie bei Goyas Bild stellt sich die Frage, ob die Vernunft eine Potenz hat, aus sich heraus Ungeheuer zu gebären. Dies am Beispiel von Gedankenexperimenten zu zeigen, scheint womöglich etwas abwegig. Was soll an einem Experiment ungeheuerlich bzw. kritikabel sein, das unmittelbar keine materielle Gewalt annimmt, das weiterhin sich nur im Kopf einer Person abspielt, die zudem auch noch in der Lage ist, das Experiment jederzeit abzubrechen, sobald es ihr nicht mehr geheuer sein sollte? Tatsächlich geht es nicht darum, Gedankenexperimente generell zu verwerfen. Vielmehr werden Gedankenexperimente hier als Ausdruck einer historisch-spezifischen Vernunft vorgestellt, die etwas von deren ungeheuerlicher Potenz in sich widerspiegeln.
Wenn auf eine bedrohliche Dimension der Vernunft hingewiesen werden soll, auf angebliche Ungeheuer, die ihr entsteigen würden, dann müssen diese auch die Räume der gedanklichen Experi­mente durchstreifen. Sind doch Gedankenexperimente die Orte, an denen die Vernunft ihre Prämis­sen ungeniert setzen kann; hier stellt sie ihre Postulate auf, entwirft die Versuchsanordnungen nach ihrem Gutdünken und führt nach ihren Gesetzen die Experimente durch. Keine Empirie, die sich in den Experimenten störend geltend macht, trübt die Verfahren des reinen Geistes.
Bevor jedoch an einem Beispiel Gedankenexperimente als Ausdruck neuzeitlicher Vernunft vorge­stellt werden können, sind einige Anmerkungen bezüglich der Kategorie der Vernunft vonnöten: Denn es ist alles andere als selbstverständlich, dass diese Kategorie als historisch-spezifische Reflexi­onsform gefasst wird. Vorherrschend sind vielmehr Vorstellungen, die die Vernunft als das Denkver­mögen des Menschen schlechthin betrachten. Es ist insbesondere die neuzeitliche Philosophie, die dieser Vorstellung zum Durchbruch verholfen hat. Unter Berufung auf einen in der Natur des Men­schen angesiedelten Vernunftbegriff wendet sie sich gegen die als dogmatisch denunzierten religiösen Ordnungssysteme vormoderner Gesellschaften, namentlich gegen das europäische Mittelalter. Ihrem idealisierten Selbstverständnis nach will sie dem Menschen einen Weg aus seiner selbst verschulde­ten Unmündigkeit weisen. Doch führt diese angestrebte Mündigkeit nicht nur zu einer freiwilligen Unterwerfung unter das Gesetz der modernen Vernunft, was der hehren Mündigkeit doch einen gewissen schalen Beigeschmack verleiht, sondern auch zu dem Umstand, dass das weltliche System dieser Vernunft sich immer auf (welt)bürgerliche Ordnung reimt (von Kapitalismus zu reden, ist bekanntlich aus der Mode gekommen). Für die Aufklärung war also der Zusammenhang von Vernunft und bürgerlicher Gesellschaft evident, allerdings unter positivistisch-ontologischem Vorzeichen.
Diese Legitimation der bürgerlichen Gesellschaft und der ihr entsprechenden Vernunftform durch deren Verankerung in der menschlichen Natur ist nicht unwidersprochen geblieben. Entsprechende Positionen2 gehen davon aus, dass die moderne Vernunft eine historisch-spezifische Reflexionsform darstellt, die mit der Totalisierung der Warenform seit Beginn der Neuzeit auf das Engste zusammen­hängt. Der sich in dieser Zeit herausbildende warengesellschaftliche Zusammenhang beruht dem­nach auf einer Universalisierung der Waren- und Geldbeziehungen. Wie Marx analysiert hat, findet im Kern dieser Beziehungen eine eigentümliche Abstraktion statt, die nicht nur das Kunststück voll­bringt, sinnlich-konkrete Gegenstände auf ein abstraktes gemeinsames Drittes zu reduzieren, sondern diesem im Geld eine eigenständige, handgreifliche Gestalt zu geben. Im Kapital schließlich schwingt sich diese Abstraktion, die Marx den Wert nennt, zu einem selbstzweckhaften, weltumspannenden, ja weltsynthetisierenden Prozess auf. Es ist diese Abstraktion des Werts, die den Weltinhalt vermittelt, synthetisiert. Der inhaltsleeren Abstraktion des Werts steht eine Welt fragmentierten, variablen Inhalts gegenüber. Runtergebrochen auf das Alltagsbewusstsein erscheint diese Logik im Verhältnis des Geldes zu den Waren. Während letztere einen variablen Inhalt repräsentieren, kommt dem Geld die Funktion zu, den Inhalt zu verknüpfen. Reine Form auf der einen Seite und kontextloser Inhalt auf der anderen, das ist die Schablone des Denkens, wie es für die Moderne konstitutiv ist. Diese in tagtäglichen Operationen vollzogene Syntheseleistung (E. Bockelmann) ermöglicht und erfordert eine Revolution der Denkungsart. Die Entleerung des Geistes von jeglichem Inhalt, seine Reduktion auf eine inhaltsleere bzw. reine Vernunftsubstanz, ist ein Alleinstellungsmerkmal der modernen Ver­nunft3. René Descartes wird zurecht als einer der ersten philosophischen Repräsentanten dieses Denkens betrachtet, denn er vollzieht nicht nur radikal die Trennung von Geist (res cogitans) und Körper (res extensa), sondern eliminiert alle Inhalte konsequent aus dem Denken. Am Ende aller Zweifel steht bei Descartes die letzte Gewissheit einer denkenden Substanz, die sich nur noch ihrer Selbst sicher sein kann - bar jeden Inhalts.
Mit dem Gedankenexperiment „Das Gehirn im Tank“ werden diese Überlegungen Descartes' direkt aufgegriffen und in eine Frankenstein'sche Versuchsanordnung übersetzt: Ein Gehirn schwimmt in einem Bassin, das mit einer Nährlösung gefüllt ist. Mittels Elektroden werden dem Gehirn über neuronale Verbindungen elektromagnetische Impulse und Signale zugeführt. Der böse Geist, bei Descartes ein die Wahrnehmung manipulierender Demiurg, hat im Gedankenexperiment die Form eines verrückten Wissenschaftlers angenommen und füttert das Gehirn mit Sinneseindrücken einer Welt, die außer im Gehirn nirgendwo existiert. Gleichsam wie die bedrohlichen Schatten aus Goyas Radierung stellt sich für uns nun die ungeheuerliche Frage, woher wir eigentlich die Gewissheit nehmen können, dass nicht wir selbst es sind, die als Gehirne in irgendeinem Nährlösungsbecken unser Dasein fristen. Innerhalb der Philosophie ist es bis heute umstritten, ob hierauf eine wie auch immer geartete Antwort gegeben werden kann. Folgen wir Descartes' Vernunftbegriff, dann bleibt das „Gehirn im Tank“ eine mögliche Variante unserer Existenz. Der Mensch als Sinnenwesen erscheint im höchsten Maße frag- und misstrauenswürdig. Ein bisschen Trost – wie könnte es anders sein – finden wir in der Vernunft. Ob als „Gehirn im Tank“ oder als Student im Bachelor-Studiengang gefangen, uns bleibt die letzte Gewissheit der Vernunft, die sich zwar allem Inhalt in der Welt nicht mehr sicher sein kann, dafür aber ihrer selbst umso stärker gewiss ist.
Mit dem „Gehirn im Tank“ kommt in der Form eines Gedankenexperimentes das Moment einer modernen Form von Weltfremdheit bzw. Weltentfremdung zum Ausdruck, wie sie für die bürgerliche Subjektivität und deren Vernunftkern konstitutiv ist. Die Leere des Subjekts gründet in der Leere der Vernunft. Gleichwohl ist es diese Vernunft, mittels derer sich der moderne Mensch auf seinesgleichen und auf die Welt bezieht, also auf Inhalte, die ihm aber stets äußerlich und fremd bleiben. In der alten Welt war der Mensch noch eingeschrieben und eingebunden in einen religiösen Kosmos, in ein sinn­stiftendes System und dessen tradierte Werte (das hier keineswegs in einem rosigen Licht gemalt werden soll). Das bürgerliche Universium bricht mit dieser Welt radikal und tritt einen atemberau­benden Revolutionierungsprozess los, der permanent tradierte Bindungen sprengt und eine stete Neukonstruktion von Identitäten erfordert, ein Prozess, der sich soziologisch in den bekannten Atomisierungs- und Individualisierungsprozessen (U. Beck) niedergeschlagen hat. Das nunmehr in der von der Vernunft verwalteten Welt angekommene bürgerliche Subjekt sucht den Sinn, der ihm qua eigener Verfasstheit abhanden gekommen ist. So kommt der Glauben der alten Welt als Sinnsur­rogat zu neuen Ehren. Schon Kant wusste keine sinnvolle Begründung für sein System der Vernunft, weshalb er Gott, Unendlichkeit und Freiheit postulierte – als notwendige Annahmen, um an ihnen sein System der Vernunft aufzuhängen.
Das „Gehirn im Tank“ spiegelt also nicht nur eine erkenntnistheoretische Fragestellung wider, sondern auch die Unsicherheit einer Subjektivität, deren Weltinhalt und Weltbezug einer permanen­ten Erosion ausgesetzt ist. Es wundert daher nicht, wenn das hier behandelte philosophische Gedankenexperiment in modifizierter Form auch durch die Popkultur aufgegriffen worden ist. Mit „The Matrix“ (1999), „Öffne die Augen“ (1997) und dessen Hollywood-Remake „Vanilla Sky“ (2001) beschäftigen sich mehrere Filme zur Jahrtausendwende mit dem Gedanken einer virtuellen Realität und deren Entfremdungspotentialen, also genau zu der Zeit, als die Fiktionalisierung der globalen Ökonomie mit der Dotcom-Blase ihren Höhepunkt erreichte4. Während „Öffne die Augen“ bzw. „Vanilla Sky“ den Horror-Trip einer virtuellen Identität auf individueller Ebene durchdeklinieren, gehen die dystopischen Vorstellungen von „The Matrix“ einen Schritt weiter: Hier liegt gleich der größte Teil der menschlichen Gesellschaft in Nährlösungsbecken, die Gehirne zu einem gigantischen neuralen Netzwerk zusammengeschlossen, dessen virtuelle Welt, Matrix genannt, durch eigenständig agierende Computer generiert wird. Pikanterweise entspricht die virtuelle Welt der Matrix ziemlich genau der Welt, wie sie sich für uns alltäglich darstellt: Arbeiten gehen, Geld verdienen, Verträge abschließen und kündigen, kulturindustriell produzierte Freizeit genießen und die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten im Rahmen einer staatlichen Menschenverwaltung wahrnehmen.5 Das könnte die Matrix sein: Eine aus Nullen und Einsen generierte Welt, die sich prima verwalten lässt unter der kalten Sonne der Vernunft. In Wirklichkeit ist sie aber der Blockbuster gewordene Widerschein des eisernen Gehäuses der Hörigkeit (M. Weber) unserer warengesellschaftlichen Wirklichkeit.
Etwas anderes zu wollen, liegt außerhalb des Universums der modernen Vernunft. Unsere soziale Phantasie reicht demnach kaum aus, eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit überhaupt zu denken. So wie die Matrix für deren Bewohner ist die moderne Vernunft ein Gefängnis für unseren Verstand. Diesem Universum zu entkommen, scheint genauso absurd und aussichtslos wie ein Fluchtversuch aus der Matrix. Das Gehirn schwimmt wohl doch im Tank.
Literatur:
Beck, Ulrich 1986. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp
Bockelmann, Eske 2004. Im Takt des Geldes. Zur Genese des modernen Denkens, Springe: Zu Klampen Verlag
Descartes, René [1641] 1998: Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie, Digitale Bibliothek 2: Philosophie von Platon bis Nietzsche, Berlin: Directmedia
Kant, Immanuel [1784] 1998. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Digitale Bibliothek 2: Philosophie von Platon bis Nietzsche, Berlin: Directmedia
Kant, Immanuel [1793] 1998. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Digitale Bibliothek 2: Philosophie von Platon bis Nietzsche, Berlin: Directmedia
Kurz, Robert 2004. Blutige Vernunft. Essays zur emanzipatorischen Kritik der kapitalistischen Moderne und ihrer "westlichen Werte", Bad Honnef: Horlemann Verlag
Marx, Karl [1867] 1982. Das Kapital. Bd 1. Der Produktionsprozess des Kapitals, Berlin: Dietz Verlag
Müller, R.W. 1977. Geld und Geist. Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewusstsein und Rationalität seit der Antike, Frankfurt a.M.: Campus Verlag
Ortlieb, Claus-Peter 1998. "Bewusstlose Objektivität. Aspekte einer Kritik der mathematischen Naturwissenschaft", krisis21/22, Bad Honnef: Horlemann Verlag, S. 15-51
Sohn-Rethel, Alfred 1961. Warenform und Denkform. Aufsätze, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt
Weber, Max [1922] 2001. Wirtschaft und Gesellschaft, Digitale Bibliothek 58: Max Weber Gesammelte Werke, Berlin: Directmedia


1Für diese Interpretation des Goya Bildes spricht, dass unter den bedrohlichen Schatten neben Fledermäusen auch viele Eulen zu sehen sind. So gilt die Eule in der Mythologie einerseits als Symbol der Weisheit, andererseits auch als Sinn­bild für Gut und Böse. Setzte Goya die Eulen also als Sinnbild einer bösen Vernunft ein? Gegen die hier vorgebrachte Interpretation spricht, dass die Eulen im Mittelalter als Teufelstiere mit Zauberkräften angesehen wurden, die Eulen genauso gut auch als Gegenbild der Vernunft interpretiert werden könnten.
2Folgende Autoren seien ohne Anspruch auf Vollständigkeit angeführt: Neben Marx, der die totalitäre Handlungs- und Denkform des Werts als spezifisch kapitalistische Vergesellschaftungsform beschrieben hat, ist Alfred Sohn-Rethel zu nennen, der in seinem Werk „Warenform und Denkform. Versuch über den gesellschaftlichen Ursprung des >reinen Verstandes<“ (1961) einen ersten Versuch einer expliziten Bestimmung dieses Zusammenhangs unternommen hat. Die meisten nachfolgenden Autoren beziehen sich auf Sohn-Rethel, kritisieren jedoch mehr oder weniger dessen Ansatz, insofern Sohn-Rethel die Konstitution des Zusammenhangs von Waren- und Denkform bereits in der Antike ansie­delt. Sohn-Rethel in diesem Punkt noch sehr nahestehend ist die Arbeit „Geld und Geist. Zur Entstehungsge­schichte von Identitätsbewußtsein und Rationalität seit der Antike“ (1977) von R.W. Müller. In dem Buch „Im Takt des Geldes. Zur Genese des modernen Denkens“ von Eske Bockelmann (2004) wird hingegen der Beginn des modernen Denkens erst im Zusammenhang einer historisch einzigartigen Ausbreitung der gesellschaftlichen Synthese über das Geld im 17. Jahrhundert verortet. Enger an einer kritischen Marx-Lektüre orientierte Autoren, die ebenfalls zu diesem Kom­plex arbeiten, sind Robert Kurz „Blutige Vernunft“ (2004) und Claus-Peter Ortlieb „Bewusstlose Objektivität“ in krisis 21/22 (1998).
3Im Gegensatz dazu ist die intelligible Welt bei Platon, einem der wichtigsten Philosophen der Antike, alles andere als inhaltsleer. Seine Ideenwelt findet ihren mannigfaltigen Inhalt in den Formen, deren Widerschein sich für uns als Weltinhalt darstellt. Aber auch über Platon hinaus ist der Begriff des Logos in der Antike wesentlich weiter gefasst, als die moderne Kategorie der Vernunft mit ihrer strengen inhaltsleeren Formalisierung.
4Wie stark die reale bürgerliche Welt selber auf einem Prozess der Fiktionalisierung gründet, davon kündet nicht nur das Platzen der Dotcom-Blase 2001, deren Friktionen noch durch eine Nachfolge-Blase (Immobilien) aufgefangen wer­den konnte. Ihr furioses Platzen stürzte 2008 die globale Ökonomie in eine massive Krise. Die gängigen Interpretatio­nen dieser Krise verkehren Ursache und Wirkung der ökonomischen Fiktionalisierung, wenn sie den Grund der Krise in der Spekulation verorten. Denn das Potential und die Notwendigkeit zur Fiktionalisierung liegt in der Realwirt­schaft selber. Ohne die spekulative Form des Reichrechnens auf der Ebene des fiktiven Kapitals hätte die notwendige Nachfrage für die globalen Überproduktionskapazitäten der Realwirtschaft gar nicht hergestellt werden können und die Krise, die in den Widersprüchen der Realwirtschaft selber gründet, wäre viel früher zum Ausbruch gekommen.
5Auch wenn der Film es nicht thematisiert: Es wäre sogar vorstellbar, dass das politische System innerhalb der Matrix eine Demokratie ist, inklusive Menschenrechten und freiem Willen. Was spräche dagegen? Soweit es das Leben inner­halb der Matrix betrifft – gar nichts. Dem Zugriff des freien Willens der MatrixbewohnerInnen einzig entzogen sind ihre Leiber, von denen sie jedoch nichts wissen. Wüssten sie von ihnen und damit von der wirklichen Welt, die sich im Film als ein apokalyptisches Szenario biblischen Ausmaßes präsentiert, eine Befreiung aus den Nährlösungsbecken obläge nicht der Freiheit ihres Willens. Hier wäre natürlich die Grenze, die der freie Wille nicht überschreiten könnte. Aber gibt es diese Grenzen nicht auch in der realen Welt? Zum einen ist Begrenzung kein Ausschlusskriterium des freien Willens, denn er selbst soll sich nach Kant begrenzen, sich unterwerfen unter das Gesetz: Dem abstrakt Beson­deren des freien Willens der Einzelnen steht die abstrakte Allgemeinheit des Allgemeinwillens gegenüber – institutio­nalisiert im Staat. Zum anderen gehört die Freiheit des Willens ehern zu einem Kategorienkanon von Arbeit, Ware, Geld, Kapital, Freiheit, Gleichheit, Recht und Staat, der das bürgerliche Universum umspannt und strukturiert - wie eine Matrix. Wenn aber die Willensfreiheit nur das bürgerliche Universum zulässt, dem Willen also eine Form von Ver­gesellschaft vorschreibt, welchen Wert hat dann die Freiheit des Willens, wenn sie selber zum Dogma wird?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Follower